Is Underground Music Dead?
Ein Essay über die Bedeutung und Kommerzialisierung
von „Underground“ im digitalen Zeitalter
„I feel like the internet has killed culture and subcultures because it’s made everyone separatist. No one goes outside of their comfort zone. Facebook and Instagram are not reality. Of course everyone you like is going to like the same shit as you. That’s the world we live in now. It’s one big echo chamber. The culture I come from, you had to bring something. You had to have a personality or a talent. You had to bring something to the party instead of taking something away.“
Früher lebten Subkulturen von direktem Austausch und persönlichen Begegnungen. Heute wird Sichtbarkeit hauptsächlich durch digitale Algorithmen bestimmt. Honey Dijon, erfolgreiche DJ, Produzentin und Aktivistin aus Chicago, die sich für Queerness, schwarze Kultur und den Erhalt des Undergrounds einsetzt, beschreibt genau diesen Wandel: Statt Eigenleistung und echtem Ausdruck dominieren digitale Echokammern, in denen Trends vorhersehbar und Kultur massenkompatibel wird.
Die Pandemie hat diesen Wandel beschleunigt. Clubs waren geschlossen, Partys verboten, der Austausch abgeschnitten. Für unabhängige Künstler*innen und DJs war das existenzbedrohend: Keine Bühne, kein Publikum, keine Möglichkeit, ihre Kunst zu präsentieren. Während große Veranstalter pausieren konnten, standen kleine Szenen vor dem Aus. Der „Underground“, der sich über physische Räume, Mundpropaganda und enge Netzwerke definierte, verlor sein Fundament – ein Umfeld, in dem Streaming nie eine Rolle spielte. Seine Künstler*innen waren tief in ihren Communities verwurzelt, spielten in kleinen Kollektiven und bewegten sich abseits der großen Industrie. Digitale Plattformen wie Boiler Room und HÖR Berlin hielten die Szene über Wasser, veränderten jedoch auch die Dynamik, indem der Erfolg nun von Views und Klickzahlen bestimmt wurde. Viele der „neuen“ Gesichter auf großen Plattformen waren längst Teil der Szene – sichtbar wurden sie erst, als virale Videos sie in den digitalen Mainstream spülten.
Was als Notlösung begann, wurde schnell ein globales Phänomen: Boiler Room-Sets erreichten Millionen Views, TikTok machte Tracks aus dem Untergrund über Nacht populär, und große Brands vermarkteten die „Underground“-Ästhetik. Hier stellen sich grundlegende Fragen: Können Subkulturen überleben, die sich einst über Unsichtbarkeit definierten, überhaupt noch existieren, wenn sie überall sichtbar sind? Verliert der Underground seine Bedeutung, wenn er kommerzialisiert wird? Ist „Underground“ heute nur noch eine Ästhetik, ein Sound, ein Marketingbegriff? Um diese Fragen zu beantworten, müssen wir zunächst verstehen, wie einige populären Subkulturen aus den Untergründen entstanden und im Laufe der Musikgeschichte kommerzialisiert wurden.
Was versteht man unter „Underground Musik“
Underground-Musik steht für Sounds und Szenen, die sich bewusst vom Mainstream abgrenzen. Sie ist roh, experimentell und unabhängig – frei von den Zwängen kommerziellen Strukturen. Statt Massentauglichkeit, geht es um kreative Freiheit, Innovation und kollektive Identität – Musik, die aus echten Communitys entsteht, nicht aus Marketingstrategien. Sie sind das Herz des Undergrounds: Sie organisieren sich selbst, oft bestehend aus Randgruppen, die durch ähnliche Lebensrealitäten verbunden sind und aufeinander zählen. Es geht nicht nur um Musik, sondern um Safe Spaces, die künstlerische und soziale Freiheit ermöglichen. Ob Punk, Techno oder experimentelle Elektronik – Underground kann in vielen Genres auftauchen, solange er sich gegen den kommerziellen Musikmarkt stellt und eigene Wege geht.
Der ewige Kreislauf: Vom Underground zum Mainstream
Gerade weil Underground-Musik authentisch ist und echte Emotionen transportiert, entwickelt sie eine Anziehungskraft, die weit über ihre ursprünglichen Communities hinausreicht. Ihre Innovationen prägen die Musiklandschaft, doch sobald der Hype groß genug wird, erkennen große Labels das Potenzial und kommerzialisieren den Sound. Aus einer Gegenkultur wird ein Produkt – oft ohne Rücksicht auf die Communities, die sie geschaffen haben. Dieses Muster wiederholt sich immer wieder u.a. bei Genres wie Jazz, Hip-Hop oder der Ballroom Szene, die als Ausdruck marginalisierter Communities begannen und dann vereinnahmt wurden:
Jazz begann nach dem Amerikanischen Bürgerkrieg (1865) sich aus Ragtime weiterzuentwickeln als eine Mischung aus europäischer Klassik und westafrikanischen Rhythmen. Zunächst als chaotische „Straßenmusik“ abgelehnt, wurde Jazz in den 1920ern zunehmend für ein wohlhabendes, weißes Publikum akzeptiert und in schicke Konzertsäle verlagert. Ein Beispiel: Während Glenn Miller 1941 mit „Chattanooga Choo Choo“ 1,2 Millionen Platten verkaufte und als erster Jazz-Musiker eine Goldene Schallplatte erhielt, waren schwarze Jazz-Musiker*innen damals strukturell von wichtigen Studiojobs und Radioauftritten ausgeschlossen.
Ein ähnliches Muster zeigt sich im Hip-Hop, der in den 1970ern aus den Straßen der Bronx als kreative Protestbewegung gegen soziale Ungleichheit entstand. Anfangs kriminalisiert und als Bedrohung dargestellt, entwickelte sich das Genre schließlich zur einflussreichsten Musikrichtung der Welt. Heute hat Hip-Hop eine 15,7-Milliarden-Dollar-Industrie geschaffen und machte 2020 31 % aller Musikstreams in den USA aus, so der Year-End Report von MRC Data und Billboard.
Auch in der Ballroom-Szene der 1980er zeigt sich dieses Muster: Ursprünglich in der queeren Schwarzen und Latinx-Community New Yorks als Zufluchtsort für Ausgegrenzte entstanden, schufen Voguing, Houses und Wettbewerbe Safe Spaces, in denen queere Identität gefeiert wurde. Mit Madonnas „Vogue“ fand die Ästhetik ihren Weg in den Mainstream, während die ursprüngliche Community weiterhin mit Armut, Ausgrenzung und der HIV-Epidemie kämpfte. Später wird diese Ästhetik von Luxusmarken wie Jean-Paul Gaultier gewinnbringend vermarktet, der 2014 Ballroom-Elemente in seine Haute-Couture-Show integrierte.
Was mit Jazz begann, setzte sich im Hip-Hop fort und wiederholt sich mit der Ballroom-Kultur sowie in vielen anderen Subkulturen – Bewegungen aus den Erfahrungen marginalisierter Communitys, erst kriminalisiert und abgelehnt, dann gefeiert, schließlich kommerzialisiert. Während die Musik und Ästhetik Milliarden einbringt, bleiben die Menschen, die sie geschaffen haben, oft ausgeschlossen.
Honey Dijon on house music’s Black Queer legacy – Southbank Centre
Was passiert, wenn Underground durch das Internet für alle zugänglich wird?
Streaming-Plattformen wie Spotify, SoundCloud und Co. machen es heute einfacher denn je, Musik zu entdecken, sich zu vernetzen und sichtbar zu werden. Für viele Künstler*innen ist das eine Chance: Anerkennung, Reichweite und finanzielle Unabhängigkeit – ohne große Labels oder klassische Gatekeeper. Doch bevor es dazu kommt, entscheiden Algorithmen, wer sichtbar wird, was gehört und konsumiert wird. Kann das noch Underground sein, wenn digitale Mechanismen über Erfolg und Relevanz bestimmen?
Social Media verstärkt diesen Effekt. Trends und Hypes werden algorithmisch befeuert und oft aus ihrem Kontext gerissen. Ein Paradebeispiel ist Techno: Während der Pandemie gewann das Genre schnell an Popularität, besonders durch Plattformen wie TikTok. Der Hashtag #techno wurde bereits 3,7 Millionen Mal verwendet und zeigt, wie das Genre als Trend in der digitalen Sphäre etabliert wurde. Techno, einst ein Ausdruck von Widerstand und kollektivem Erleben, wurde plötzlich zu einem Image mit „Techno-Moves“ und Kinky-Outfits. Doch Social Media liebt genau diese schnellen, oberflächlichen Trends. Techno wird in ein 15-Sekunden-Format gepresst – ein Stil, den man sich aneignet und wieder ablegt, statt die Kultur zu leben. Dabei hat Techno eine tiefere Geschichte, die im Mainstream oft unsichtbar bleibt, da sie unbequem ist. Unbequem, weil Subkulturen wie Techno oft aus sozialen Missständen wie Rassismus, queer-feindlicher Ausgrenzung und wirtschaftlicher Ungleichheit entstehen – als Ausdruck von Widerstand und dem Bedürfnis nach eigenen Räumen.
Dass Underground-Kultur sich verändert, zeigt auch Boiler Room – einst ein kleines, unabhängiges Underground-Format, heute ein Teil eines milliardenschweren Musiknetzwerks. 2010 gegründet, brachte Boiler Room das Cluberlebnis direkt aus dunklen Kellern und kleinen Venues ins Internet. Doch 2024 wurde die Plattform von Superstruct Entertainment übernommen, einem der mächtigsten Akteure der globalen Festival- und Clubszene. Superstruct besitzt große Festivals wie Awakenings, Mysteryland und Wacken Open Air und wurde kürzlich selbst für 1,3 Milliarden Euro von der Investmentfirma KKR gekauft. Die Zahlen zeigen, dass hier längst nicht mehr nur Kultur, sondern ein milliardenschweres Geschäft dahintersteht. Der einstige DIY-Spirit ist einer professionellen, globalen Markenstrategie gewichen. Dabei bleibt die Frage: Profitieren Künstler*innen und Subkulturen von dieser Entwicklung oder werden sie einfach nur vermarktet? Was früher eine Gegenkultur war, ist heute Teil der großen Entertainment-Industrie geworden. Techno ist dadurch längst mehr als ein kurzlebiger Social-Media-Hype – die wachsende öffentliche Aufmerksamkeit hat das Genre in einen neuen Kontext gerückt.
Vom Untergrund zur UNESCO-Ehrung – Wem gehört Techno?
Schon lange ist Techno nicht mehr nur eine Bewegung aus dem Untergrund, sondern wird politisch und kulturell als prägender Bestandteil gesellschaftlicher Entwicklungen anerkannt. Neben der Kommerzialisierung erfährt das Genre nun auch eine offizielle Würdigung, die vor einigen Jahrzehnten noch undenkbar schien. Die Deutsche UNESCO-Kommission erklärte 2024 Berliner Techno zum immateriellen Kulturerbe – für viele Berliner*innen ein Zeichen, dass Subkulturen die Welt erobern können. Doch der Ursprung von Techno? Wird nur am Rande erwähnt. In ihrer offiziellen Erklärung heißt es:
„Techno basiert auf verschiedenen musikalischen Entwicklungen, unter anderem auf die elektrische Klangerzeugung im 20. Jh., Detroit Techno, Chicago House und EBM aus Belgien.“ (UNESCO, 2024)
Die Würdigung von Berliner Techno als immaterielles Kulturerbe durch die UNESCO ist ein wichtiger Schritt, um die Bedeutung dieser Subkultur anzuerkennen. Gleichzeitig sollte dabei sichtbar bleiben, dass Techno nie nur einer Stadt oder einer bestimmten Szene zuzuordnen ist – es ist das Ergebnis vielfältiger Einflüsse, geprägt von unterschiedlichsten Gruppen, Gemeinschaften und Bewegungen weltweit. Während Berlin als Epizentrum der Techno-Kultur gefeiert wird, bleibt der eigentliche Ursprung eine Randnotiz. Ohne Underground Resistance, Juan Atkins oder Derrick May – wo wäre Berliner Techno heute? Die musikalischen Einflüsse reichten weit, von elektronischer deutschen Avantgarde u.a. Kraftwerk bis hin zu Industrial-Sounds, doch die Kultur, die Techno geformt hat, entstand aus ihren Communities.
Techno entstand in Detroit, um Menschen zu verbinden – nicht, um sie auszugrenzen. Es war ein Sound, der Barrieren überwand und Räume für diejenigen schuf, die in der Gesellschaft oft keinen Platz hatten. Das wirft die Frage auf, warum genau dieser inklusive Ursprung in der offiziellen Würdigung kaum sichtbar wird. Wenn Techno heute als Kulturerbe anerkannt wird, warum bleibt dann die Bewegung unsichtbar, aus der es hervorging?
Die selektive Wahrnehmung zeigt, wie kulturelle Narrative sich verschieben. Mit wachsender Popularität rückte zunehmend die Ästhetik in den Vordergrund, oft losgelöst von den sozialen Realitäten, die Techno geformt haben. Schon in den 90ern erlebte das Genre eine erste große Kommerzialisierungswelle: In Europa wurde es durch die Love Parade, UK-Raves und kommerzielle Eurodance-Acts zum Massenphänomen, ohne Bezug zu seinen Ursprüngen. Heute setzt sich dieser Prozess fort. Statt einer umfassenden Würdigung bleibt der soziale Kontext ausgeklammert. Diese Auslassung ist kein Zufall – sie verdeutlicht, wie eng Kommerzialisierung mit kultureller Aneignung verknüpft ist. Das betrifft nicht nur Musik. DIY-Ästhetiken, Jargon und Streetwear werden aufgegriffen und vermarktet, oft ohne Rückbezug auf die Communities, die sie geschaffen haben. Was bedeutet das für den Underground im digitalen Zeitalter? Bleibt noch Raum für Gegenkultur, oder ist alles, was sichtbar wird, längst Teil eines Systems, das aus Rebellion Kapital schlägt?
Underground 2.0?
Der Underground verschwindet nicht – er verändert sich. Solange es soziale Ungleichheit, Ausgrenzung und den Drang nach eigenen Räumen gibt, wird es auch immer kreative Köpfe geben, die neue Wege abseits des Mainstreams suchen. Früher war der Underground an physische Räume gebunden – Orte, die sich kommerziellen Einflüssen entzogen. Heute bietet das Internet neue Möglichkeiten: Es vernetzt Menschen global, macht alternative Kultur zugänglich und schafft neue Räume jenseits klassischer Strukturen. Während einige sich bewusst aus der Sichtbarkeit zurückziehen, nutzen andere die digitale Vernetzung, um ihre Communities zu stärken und unabhängige Plattformen aufzubauen.
Gerade deshalb spielen Kollektive in der Clubkultur eine immer wichtigere Rolle. Sie schaffen alternative Räume, in denen gemeinschaftliche Werte und künstlerische Freiheit im Mittelpunkt stehen. Die Rave-Kultur etwa verteidigt sich aktiv gegen den Mainstream: Sie bleiben bewusst unabhängig und setzen auf Selbstorganisation. Dadurch entstehen alternative Orte, an denen sich Menschen frei entfalten können – fernab standardisierter Cluberlebnisse.
Doch der „Underground 2.0“ ist nicht nur ein Rückzug ins Verborgene – er nutzt digitale Räume, um neue Verbindungen herzustellen. Social Media und Streaming-Plattformen haben das Spielfeld ganz klar verändert: Künstler*innen erreichen ein weltweites Publikum, Subnischen entstehen schneller und werden zugänglicher. Plattformen wie Apartment Life, Black House Radio oder My Analog Journal zeigen, dass Reichweite nicht zwangsläufig bedeutet, dass unkommerzielle Musikszenen ihren Kern verlieren. Es geht nicht darum, ob Underground in der digitalen Ära überlebt – sondern darum, wer die neuen Strukturen prägt und wer am Ende davon profitiert.
Was bleibt?
Was früher unsichtbar bleiben musste, um zu existieren, kann heute weltweit Menschen zusammenbringen. Der Underground ist nicht mehr nur ein Ort des Verborgenen, sondern auch ein Netzwerk – verknüpft durch digitale Plattformen, die sowohl neue Möglichkeiten als auch neue Herausforderungen bringen. Während sich Künstler*innen und Communities eigene Strukturen aufbauen, bietet die digitale Ära zugleich Raum für Kommerzialisierung: Sie macht Subkulturen sichtbar, doch oft werden sie dabei entkernt und vermarktet – losgelöst von ihren Ursprüngen. Trends kommen und gehen, doch die Realität der Communities, die sie geschaffen haben, bleibt bestehen.
Fazit: Underground ist nicht tot – er wandelt sich. Er passt sich an, erfindet sich neu und bleibt dennoch seiner Essenz treu. Wie Honey Dijon es treffend formuliert: “You had to have a personality or a talent. You had to bring something to the party instead of taking something away.” Genau das bleibt! Underground ist eine Haltung – DIY-getrieben, experimentell, kompromisslos. Er ist ein Akt der Befreiung und Bewahrung von Identität.