Deep Dive – Dance Chronicles Teil 1
Stell dir vor: Du stehst mitten auf einer pulsierenden Tanzfläche. Die Beats packen dich, Lichter zucken und du kannst förmlich spüren, wie eine kollektive Energie entsteht. Der DJ lässt einen Track nahtlos in den nächsten fließen, die Menge bewegt sich in einem Flow. Dance Music ist nicht nur Sound – sie ist Kultur, Gemeinschaft, ein globales Phänomen und vor allem ein Gefühl. Sie ist auch ein Widerstand, ein Ausdruck von Freiheit und Zugehörigkeit, besonders für diejenigen, die oft an den Rändern der Gesellschaft stehen. Aber wo hat das alles angefangen? Was haben jamaikanische Dub-Legenden, analoge Synthesizer und eine heruntergekommene Automobilstadt damit zu tun? In diesem Deep Dive tauchen wir hinab zu den oft übersehenen Ursprünge und Entwicklungen von Dance Music – dahin, wo sie geboren wurde. Let’s dive in!
Was ist Dance Music?
Tanzen und Musik sind so alt wie die Menschheit. Bereits in den 1920ern tanzten Menschen zu Big Bands, Swing und Jazz. Doch erst Synthesizer[1], Drum Machines[2] und Sampler[3] ermöglichten den elektronischen Sound, der Dance Music wie wir sie heute kennen, ausmacht. In diesem Artikel konzentrieren wir uns auf die moderne Form der Dance Music, insbesondere auf ihre Underground-Strömungen. Als Überbegriff verschiedener elektronischer Musikstile, die in Nachtclubs gespielt wird wie u.a. Disco, House, Techno, Garage, Drum and Bass und Trance – alle sind geprägt von subkulturellen Wurzeln, experimentellen Ansätzen und unabhängiger Verbreitung. Unseren Fokus legen wir hier auf den Genres Disco, House und Techno.
Im Gegensatz zur kommerziellen Dance Music, die auf Charts und Massenpublikum abzielt, steht der Underground für künstlerische Freiheit, Innovation und die Rückbesinnung auf kulturelle Ursprünge. Er schafft nicht nur neuen Sound, sondern auch Räume der Zugehörigkeit und Akzeptanz für marginale Communities – für Queer’s, BIPoc’s und Freigeister. Doch wie genau ist diese Bewegung entstanden? Wer hat die entscheidenden Schritte gemacht? Und welche Rolle spielte Technik? In den folgenden Abschnitten werden wir die entscheidenden Etappen der Entwicklung nachzeichnen – von der revolutionären Kraft des Synthesizers und dem Einfluss jamaikanischer Dub-Musik, über die kulturellen Wurzeln der Disco, bis hin zur Geburtsstunde von House und Techno.
Der erste Ton: Der Synthesizer als Gamechanger
Um die Wurzeln von Dance Music zu verstehen, muss man die technologische Entwicklungen betrachten, die elektronischen Sound erst möglich machte. Ein Name steht dabei ganz oben: Robert Moog. In den 1960er Jahren entwickelte der US-amerikanische Elektrotechniker den Moog-Synthesizer – ein Gerät, das Musiker nicht nur Klänge erzeugen, sondern diese auch beliebig formen und modulieren ließ.
Moog selbst beschrieb es 1993 in einem Telefon-Interview mit dem Musikhistoriker Irwin Chusid einmal so:
„Alles, was Töne von sich gibt und mit Schaltern verändert werden kann, ist ein Synthesizer. […] Aber wenn du dies und das einstellen kannst, hier ein Patchkabel[4] legen kannst, dort ein anderes, und damit den Klang in seiner Qualität in neue Bereiche führst, dann hast du einen Synthesizer.“
Obwohl Moog nicht der erste war, der solche Klangerzeuger entwickelte, legte er mit seinem Synthesizer die Grundlage für das, was elektronische Musik heute ausmacht. Er ermöglichte es, Sound individuell zu gestalten mit einem typischen, warmen und analogen Klang, der sich deutlich von anderen Geräten abhob. Die Live-Anpassungen von Klängen eröffnete Musiker*innen neue kreative Möglichkeiten, was es theoretisch jedem ermöglichte, Musik zu produzieren. Doch Technik allein macht noch keine Revolution. Es brauchte kreative Köpfe und einen kulturellen Nährboden, um die Technologie zu nutzen und Musik auf die nächste Ebene zu heben.
Kulturelle Wurzeln: Von Dub zu Disco
Die erste kulturelle Innovation kam aus dem sonnigen Jamaika: Ende der 1960er experimentierten Künstler wie King Tubby und Lee Scratch Perry mit Mehrspuraufnahmen, Hall- und Echoeffekten. Sie legten den Grundstein für Dub-Musik, die Reggae und die gesamte Musikproduktion nachhaltig beeinflusste. Indem sie das kreative Potenzial des Studios als Instrument selbst eröffneten, veränderten sie nicht nur die Produktionsweise der Musikindustrie, sondern auch die Art und Weise, wie Musik als Kunstform und Ausdruck persönlicher Kreativität gesehen wurde.
Dub wurde in Jamaikas Nachtclubs zum Soundtrack einer neuen Generation und beeinflusste später Genres wie Punk, Hip-Hop, House und Dubstep. Es war ein Vorbote für das, was kommen sollte: die Verschmelzung von Technik, Kultur und Experimentierfreude. Bis heute steht Dub für die Möglichkeit, beim Mixing ein individuelles „Do Your Thing“-Statement zu setzen. Beim Dub geht es nicht nur ums Remixen im klassischen Sinne – es ist vielmehr ein kreativer Prozess, bei dem Original-Tracks neu aufgebaut, strukturiert und durch den bewussten Einsatz von tiefen Bässen sowie Effekten wie Echo und Reverb[5] feinjustiert werden. Hier entstand Raum für musikalische Freiheit, in dem Producer*innen und DJs ihre eigene Vision von Sound entfalten konnten.
90 Minutes of King Tubby – Eine rohe Kostprobe von jamaikanischem Dub-Sounds, gemixt von DJ Mista Savona
Der Aufstieg der Disco-Kultur
Die 1970er in den USA wurden im Nachtleben vor allem von Disco dominiert. Für queere, afro- und lateinamerikanische Communities boten sogenannte „Underground Discotheques“ in New York, Chicago und Philadelphia sichere Räume abseits der heteronormativen Mainstream-Clubs, um sich frei auszudrücken.
Legendäre Locations wie das intime, wohnzimmerartige The Loft, das mit seiner warmen Atmosphäre zum gemeinsamen Eintauchen in die Musik einlud sowie das pulsierende The Gallery, bekannt für seinen experimentellen Sound und kreative Ekstase, boten visionären DJs wie David Mancuso und Nicky Siano die perfekte Bühne, um das Publikum mit einem genreübergreifenden Mix aus Soul, Funk und frühen Disco-Hits in rauschhafte Nächte zu entführen. Hits wie Isaac Hayes’ „Theme from SHAFT“ (1971), George McCraes „Rock Your Baby“ (1974) und Gloria Gaynors „I Will Survive“ (1978) prägten den Sound dieser Ära und definierten den Groove einer ganzen Generation.
Doch einer DER Tracks, der Disco maßgeblich auf die Weltkarte brachte, stammte nicht wie vielleicht vermutet aus den USA, sondern aus Afrika. Der kamerunische Saxophonist Manu Dibango schuf mit „Soul Makossa“ (1972) einen Song, der von David Mancuso, der Disco-DJ-Legende seiner Zeit, als erster offizieller Disco-Track bezeichnet wurde. Der Song, geprägt von treibenden Rhythmen, einem hypnotischen Refrains und Dibangos markantem Saxophon, verband Elemente des Afrobeat – westafrikanischen Rhythmen, Funk und Jazz – mit dem Sound des aufkommenden Genres. In den Underground-Clubs New Yorks wurde er populär und ebnete so den Weg für die internationale Verbreitung des Genres.
Ein weiterer Meilenstein war „I Feel Love“ (1977) von Donna Summer, produziert von Giorgio Moroder. Der Song kombinierte erstmals konsequent elektronische Klänge mit dem typischen Disco-Groove und setzte damit einen neuen Standard. Mit diesem zukunftsweisenden Sound legte er den Grundstein für die Dance Music.
Doch wie so oft bei populären Genres, die den Mainstream erobern, wurde der enorme Erfolg von Disco dem Genre letztlich zum Verhängnis. Der Boom des Genres führte zu einer regelrechten Flut an Veröffentlichungen, oft von Künstler*innen, die wenig mit der queeren Subkultur verband, aus der Disco ursprünglich hervorging. Die Kommerzialisierung und Überproduktion ließen die Qualität leiden und erzeugten eine Übersättigung des Marktes – eine Entwicklung, die Disco Mitte der 1970er Jahre zunehmend ins Kippen brachte.
„Disco Revenge“: Von der Disco zum Underground – Die Geburt von House Music
Ende der 1970er Jahre erreichte Disco sein Höhepunkt – und stieß gleichzeitig auf eine heftige Gegenbewegung in der sogenannten Disco Demolition Night. Doch statt das Ende von Disco zu markieren, war dies der Beginn einer musikalischen Revolution, die die Clubszene für immer verändern sollte: die Geburtsstunde der House Music.
Ein entscheidender Akteur in dieser Transformation war Larry Levan, dessen Arbeit im Paradise Garage in New York City den Sound der frühen House Music maßgeblich prägte. Levan, bekannt als Perfektionist und musikalischer Visionär, experimentierte mit Synthesizern und Drum Machines wie der Roland TR-808 und verband die Energie von Disco mit futuristischen, elektronischen Klängen. Doch sein Einfluss reichte weit über die Musik hinaus: Das Soundsystem wurde ständig angepasst, das Licht gezielt gesetzt, die Musik auch mal unterbrochen – sogar die Discokugel brachte er eigenhändig wieder zum Glänzen. Alles für den richtigen Moment. Paradise Garage wurde so zu einem legendären Ort, an dem Musik und Tanz zu einer intensiven, fast spirituellen Erfahrung verschmolzen – ein Raum, in dem Menschen unabhängig von Herkunft oder Identität gemeinsam feierten.
Larry Levan live: Eine Nacht im Paradies – Paradise Garage 1985
Obwohl Chicago oft als die Wiege der House Music gilt – schließlich leitet sich der Begriff „House“ vom legendären Chicagoer Club The Warehouse ab – war auch New York eine entscheidende Geburtsstätte des Genres. Frankie Knuckles, später als „Godfather of House“ bekannt, entwickelte im Warehouse die prägenden Elemente der House Music. Der Club selbst war mehr als nur ein Ort zum Tanzen: Mit seiner dunklen, intimen Atmosphäre und einem Gefühl von Exklusivität bot er einen sicheren Rückzugsort, in dem sich die Gäste vollkommen in der Musik verlieren konnten. Inspiriert von Larry Levan in seinen frühen Jahren, übernahm Knuckles die Idee, Musik als ganzheitliches Erlebnis zu inszenieren.
Levan wiederum prägte im Paradise Garage in New York mit seinem visionären Sound den Garage House-Stil und legte damit die Grundlage für den modernen House Sound. Während DJs wie Ron Hardy und Frankie Knuckles in Chicago diesen Ansatz weiterentwickelten, schuf Levan in New York mit Garage House eine eigenständige Variante – ein wichtiges Bindeglied, das den Wandel von Disco zu House anstieß.
Knuckles selbst erinnerte sich später in einem Interview mit Red Bull Music Academy:
„The first time I saw a sign in the window of a tavern on the South Side of the city that said, ‚We Play HOUSE MUSIC,‘ I had to ask my friend, ‚What is “House Music?”‘ He answered, ‚It’s the same music you play at The Warehouse. It’s just the kids call it “House Music.”‘ (Knuckles, 2011)
Frankie Knuckles "The Godfather of House" live: Eine Reise in die frühen 80er Jahre im The Warehouse
Die technischen Innovationen durch u.a. Turntables [6], Synthesizer, Drum Machines und Sampler ermöglichten es DJs, weit über das reine Auflegen hinauszugehen. Sie wurden selbst zu Produzierende, die Platten nicht nur mixen, sondern ganze Tracks neu erschaffen konnten. So wurde House zu einem Werkzeug der Emanzipation: Junge, oft aus der Arbeiterklasse stammende Menschen of Color, fanden in dieser Musik eine Möglichkeit, ihre Kreativität auszuleben und ihre Stimmen hörbar zu machen – losgelöst von den Strukturen großer Plattenlabels.
Die ersten Schritte von House Music manifestierten sich in zwei ikonischen Releases, die den Sound und die Kultur maßgeblich prägten: Jesse Saunders’ „On and On“ (1984) gilt als Pionierwerk, ein roher, minimalistischer Groove, der zeigte, dass diese Musik nicht nur die Seele, sondern auch die Kassen füllen konnte. Mit Chip E.s Jack Trax EP (1985) bekam der Sound dann seinen Namen – „It’s House“ und „Time to Jack“ brachten den Style auf den Punkt und machten klar: House war nicht nur ein Sound, sondern eine Ansage. House Music war somit das Produkt eines kreativen Dialogs zwischen den beiden Städten.
Detroit: Der rauere Klang der Industriekultur
Parallel zu House entwickelte sich in Detroit eine härtere und futuristische Variante, die die globale Clubkultur nachhaltig prägte: Techno. Die Stadt, gezeichnet von industriellem Niedergang und sozialen Herausforderungen, bot den idealen Nährboden für eine Musik, die diese Realität reflektierte und gleichzeitig visionär nach vorn blickte. Drei wesentliche Faktoren führten zur Entstehung dieses Genres: Detroit, geprägt von industrieller Geschichte, übertrug die mechanischen Rhythmen der Fabriken in den Sound des Techno. Sozioökonomische Spannungen wie Arbeitsplatzverluste und soziale Ungleichheit weckten den Drang nach Ausdruck und Innovation. Gleichzeitig beeinflusste Detroits musikalische Tradition, insbesondere Motown mit seinem Mix aus Soul, Pop und R&B, die Pioniere des Techno und prägte ihren zukunftsorientierten Sound mit emotionalen und rhythmischen Elementen von Funk und Soul.
Der raue Sound von Techno fand in Clubs wie dem Music Institute, einem minimalistischen Ort der musikalischen Experimentierfreude, und The Shelter, einem dunklen, energiegeladenen Rückzugsort im Untergeschoss von St. Andrew’s Hall, seine Heimat. In beiden Clubs traf der futuristische, mechanische Sound der DJs wie Derrick May auf die pulsierende Energie der tanzenden Menschen und ließ Techno in Detroit zu einem revolutionären Erlebnis werden.
Jeff Mills, eine der Ikonen des Detroit-Techno, beschrieb im britischen Magazin The Skinny die Essenz des Genres mit den Worten:
“[Techno] wasn’t designed to be dance music, it was designed to be a futurist statement.”
(Jeff Mills, 2013)
Weitere Pionier*innen wie The Belleville Three bestehend aus Juan Atkins, Kevin Saunderson und Derrick May sowie die „First Lady of Detroit“ K-Hand ließen sich von europäischen Künstlern wie Kraftwerk inspirieren und verschmolzen diese Einflüsse mit den funkigen, groove-basierten Traditionen ihrer Heimat. Derrick May beschrieb Techno treffend als „George Clinton, der Kraftwerk in einem Aufzug trifft“.
Gemeinsam mit Richard Davis legte Juan Atkins unter dem Namen Cybotron 1981 mit „Alleys of Your Mind“ den Grundstein für Detroit Techno, während A Number of Names mit „Sharevari“ im selben Jahr den Prototyp des Genres präsentierten – beide Tracks verbanden futuristische Klänge mit funkigen, rhythmischen Elementen und fingen so den einzigartigen Detroit-Sound ein. Während House stärker von der Disco-Kultur geprägt war, spiegelte Techno die industrielle und experimentelle Atmosphäre Detroits wider und bot Raum für künstlerische Freiheit.
Trotz seiner treibenden Kraft blieb Detroit Techno lange eine reine Underground-Bewegung, die in ihrer Heimatstadt wenig Anerkennung fand. Erst als der Sound in den 1990er Jahren nach Frankfurt und Berlin überschwappte, erlebte er einen unvergleichlichen Boom. Techno wurde zum Soundtrack der Wiedervereinigung Berlins. DJs und Produzenten wie Jeff Mills und Juan Atkins wurden regelmäßig in den legendären Nachtclub Tresor eingeladen, um den „Sound of Detroit“ zu spielen, der bald als „The Sound of Berlin“ eine neue Ära der elektronischen Musik einläutete.
The Sound of Detroit: Taucht ein in Jeff Mills’ energiegeladenes Set für Ravesignal (1993)
Fazit: Eine Bewegung, die verbindet
Heute begeistert Dance Music Millionen auf riesigen Festivals, doch der Spirit der Underground Dance Music lebt in kleinen Clubs, alternativen Raves und experimentellen Studios weiter – genau dort, wo neue Sounds entstehen und die nächsten Kapitel von Dance Chronicles geschrieben werden. Wie es nach den Anfängen weiterging, wie sich Dance Music bis heute entwickelt hat und was die Zukunft für Dance Music bereithält, erfahrt ihr im zweiten Teil.
Notes:
[1] Synthesizer: Ein elektronisches Instrument, das Klänge erzeugt und verändert, um verschiedene Töne und Effekte zu kreieren.
[2] Drum Machines: Erzeugen Schlagzeugklänge die programmierbar sind, um Rhythmen und Beats zu erstellen.
[3] Sampler: Ein elektronisches Gerät, das Audioaufnahmen speichert, bearbeitet und in Musikstücken neu kombiniert werden kann.
[4] Patchkabel: Ein Verbindungskabel für Audiogeräte
[5] Reverb: Nachhallender Effekt
[6] Turntables: DJ-Plattenspieler